Statt Karten: Eine Weihnachtsgeschichte.

In diesem Jahr hat mich Isabel Garcia eingeladen, für ihre akustische Weihnachtsaussendung eine Geschichte zu schreiben, die sie vorliest und als MP3 oder CD zum Fest versenden wird.
Wer sie lieber (ganz altmodisch) lesen will:

Und es gibt ihn doch.

„So,“ sagte Papa und stand vom Abendbrottisch auf, „dann will ich mal.“

Er wischte sich mit der Serviette den Mund, legte sie aufs Brettchen und ging um den von vier Kerzen erleuchteten Tisch herum in Richtung Diele. Auf halbem Wege drehte er sich um: „Nick, komm doch mal.“
Ein Hoffnungsschimmer keimte in dem Sechsjährigen auf. Vielleicht durfte er ja mitkommen! Wenn Papa an Weihnachten schon nicht zu Hause war, dann konnte er ihn vielleicht zur Arbeit begleiten und ihm vielleicht sogar dabei helfen. Eilig lief er seinem Vater hinterher, der bereits seinen Mantel angezogen hatte. Papa kniete sich zu ihm ab und legte ihm eine Hand auf die Schulter:
„Ich verlass mich auf Dich, mein Sohn“ er schaute ihn liebevoll und ernsthaft an: „ich verlass mich darauf, dass Du heute Nacht auf Mama aufpasst und dass Ihr beide ein schönes Weihnachtsfest verbringt.“
Nick senkte den Kopf. Wieder nicht. Wieder nicht. Wieder nicht! echote es in ihm. Papa strich ihm übers Haar. „Kopf hoch, Nicki. Irgendwann nehm' ich Dich mit. Versprochen. Aber noch ist es zu gefährlich für Dich. Bei dem Wetter zu fahren allein!“ Er seufzte.
„Und die Kletterei. Neinnein. Du und Mama – ich wünsch Euch frohe Weihnachten.“ Er drückte seinem Sohn einen zarten Kuss auf die Stirn, stand auf und nahm seine Frau in den Arm. „Mach’s gut, Liebes.“ Schon halb in der Tür, mit der wärmenden Mütze schon auf dem Kopf, drehte er sich noch einmal um. „Fast hätte ich's vergessen. Ich hab ja noch was für Dich, Nicki.“ Und er gab seinem Sohn ein sorgfältig in Papier und Schleife eingewickeltes Päckchen in die Hand, kaum größer als Nicks Handteller. „Mama zeigt Dir, was Du damit anfängst. Fröhliche Weihnachten, mein Junge!“ Und schon war er draußen. Nick sah ihm noch einige Meter zu, bis er, Schritt für stap-fenden Schritt, in dem nächtlichen Schneegestöber verschwand. „Nick“ rief die Mutter, „mach die Tür zu, es zieht!“

Später saßen sie unterm Baum, und nachdem Mama, wie jedes Jahr – und wie jedes Jahr Mama – die Weihnachtsgeschichte vorgelesen hatte, fragte er wieder einmal: „Wieso feiern wir Weihnachten immer ohne Papa?“
– „Ach, Nick, das weißt Du doch.“ Mama blickte ihn verständnissuchend an.
– „Ja, aber alle anderen Kinder feiern mit ihren Papas. Und das find ich ungerecht.“
– „Nicht alle,“ entgegnete sie. „Die Ärzte im Krankenhaus... stell Dir vor, jemand wird ausgerechnet heute Nacht krank und muss ins Krankenhaus... bestimmt sind manche Ärzte da auch Papas und können am Heiligabend nicht bei ihren Kindern sein....“
Dabei gab sie ihrem Jungen insgeheim recht – irgendwie es war eben doch ungerecht. „Oder... wenn irgendwo ein Tannenbaum anfängt zu brennen, weil ein kleiner Junge wie Du...“
– „Ich bin kein kleiner Junge!“
– „Entschuldige. Weil ein Junge unvorsichtig mit den Kerzen war....
– „So was mach ich nicht!“
– „Weiß ich doch. Ist doch nur ein Beispiel: Wenn da also jetzt ein Feuer entsteht. Was meinst du, wie froh die Familie dann ist, dass die Feuerwehr auch nachts kommt. Sogar in der Nacht zum 25. Dezember! Und weißt du was?“
Klar wusste er. Wie oft hatten sie darüber eigentlich schon gesprochen?
– „Bestimmt sind bei den Feuerwehrmännern auch ein paar Papas dabei, die eben nicht bei ihren Familien sind.“
– „Ja,“ trotzte Nick, „aber bei den Familien kommt wenigstens der Weihnachtsmann. Bei uns nicht. Nie!“
Und dann schluchtzte er plötzlich: „Manchmal glaube ich, es gibt den Weihnachtsmann gar nicht. Du und Papa, ihr habt den erfunden.“
„Ich weiß ja. Aber andererseits weißt du auch, dass es ihn gibt, oder?“
Sie schaut ihn ernst an. Der Junge nickte zögernd.
Draußen war es still. Der Schneesturm hatte sich gelegt. In die Stille hinein sagte Mama nun aufmunternd: „Weißt Du was? Wir machen uns jetzt erstmal einen schönen heißen Kakao. Dann wickelst Du Papas Geschenk aus – ich bin gespannt, was drin ist – und dann gehen wir beide raus in den Schnee. “

Mildes Mondlicht beleuchtete die kleine behagliche Küche, als Mama die Milch aus der Speisekammer holte und einen Topf auf den Ofen setzte. Nick setzte sich an den Tisch und holte das kleine Päckchen aus der Hosentasche. Die rote Schleife war schon etwas zerknittert und beim Herausholen war auch ein Eckchen Papier abgerissen. Wie’s aussah, war es tatsächlich eine Streichholzschachtel. Er wickelte sie aus dem Papier und schob die kleine Papp-Lade auf. Dort lag, in einem Bett aus Watte – ein Schlüssel. Ein etwas rostiger, einfacher Bartschlüssel. Und? Nick guckte seine Mama fragend an.
– „Ich hab doch schon gesagt, lass uns mal rausgehen und gucken.“
Während sie in ihre Stiefel und Mäntel schlüpften, fing Nick noch einmal davon an: „Ich will jedenfalls nicht wie Papa werden. Ich will Weihnachten bei meiner Familie sein, wenn ich groß bin.“
– „Das hab ich mir auch von Papa gewünscht, als wir uns kennengelernt haben, und als Du auf der Welt warst, war es noch einmal ganz besonders schwer für mich. Aber das ist nun mal seine Aufgabe, und wer weiß, eines Tages machst du es vielleicht auch so. Wie Papa. Und wie vor ihm sein Papa, und wie vor ihm sein...“
– „Papperlapapp. Die ganzen Ärzte und die Feuerwehrleute und alle, und auch Papa: was haben die denn davon, dass sie ausgerechnet heute nicht zu Hause sind, wo sie hingehören...“
– „Sie wissen, Sie werden gebraucht. Und das ist vielleicht das schönste Gefühl, dass man haben kann...“
Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter ihren Füßen, als sie in die bläulich glitzernde Landschaft hinaustraten. Die Schaukel, die Büsche im Garten, die weite Ebene vorm Haus und das dahinterliegenden Tannenwäldchen waren vollkommen eingeschneit, kaum zu erkennen unter den wie von Zuckerguss geformten Konturen.
– „Und wohin gehen wir jetzt?“ fragte Nick.
– „Jetzt schauen wir mal nach, wo dein Schlüssel passen könnte.“
Mama führte ihn ums Haus zum Heuschuppen. Die kleine Tür auf der Rückseite war wieder mal nicht ordentlich verriegelt. Papa vergaß das öfter mal, vor allem, wenn er viel zu tun hatte. Mama schüttelte lächelnd den Kopf und trat ein, Nick folgte ihr. Umständlich entzündete sie eine Laterne und führte den Jungen schließlich in die gegenüber liegende Ecke des Schuppens. Wieso war denn dort eine neue Box? Die war doch noch nie da gewesen, dachte Nick. Und was rührte sich denn da hinter der hölzernen, halbhohen Wand? Da raschelte was.
Mit vor Aufregung und Neugier zitternden Händen fummelte er den Schlüssel aus der Hosentasche und in das wuchtige Vorhängeschloss, das die Tür zur Box versperrte.
Ein Rentierkälbchen sah ihn halb ängstlich, halb hilfesuchend an. Nick rannte zu ihm und schloss es in seine Arme. Er vergrub sein Gesicht in dem weichen Fell, atmete den süßen, kindlichen Geruch des Kälbchens.
– „Es braucht Dich.“ sagte Mama leise, ohne dass Nick es überhaupt hörte.
– „Und, weißt Du: das ist das schönste Gefühl, dass man haben kann...
...mein kleiner Nikolaus.“

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